Bild des Monats März 2021: Die Unterweisung Mariens

Die Unterweisung Mariens – ein erstaunliches  Bildmotiv, für das es keine schriftlichen Informationsquellen gibt, weder in den Evangelien des Neuen Testaments noch in den beliebten apokryphen Evangelien des Mittelalters oder in der Legenda aurea! Es entstand im Spätmittelalter, als sich die Religiosität wandelte  hin zu einer individuelleren Beziehung zu Gott, zur Leidensgeschichte Jesu und zu den Heiligen. Dadurch änderten sich auch christliche Darstellungen: Die Botschaft eines Bildes wurde emotionaler und weniger abhängig von religiösen Auslegungen. Verbunden mit der bewegenden Wirkung eines Bildes erleichterte sie damit auch die persönliche Andacht.

Auf diese Weise entwickelten sich unabhängig von textlichen Vorlagen neue Bildtypen wie zum Beispiel der Schmerzensmann (Martinskirche: westlicher Chorbogen rechts, unterstes Register), der den leidenden Christus mit seinen Kreuzigungswunden lebend darstellt, oder die Unterweisung Mariens.

Anna und Maria – Symbolfiguren der weiblichen Lesekultur

Seit den Anfängen des Christentums gehörte das Beherrschen des Lesens zu einem gottgeweihten Leben. Der christliche Glauben hatte sich als Buchreligion manifestiert und Lesen war eine religiöse Übung. Grundsätzlich galt für all diejenigen, die Gott ihr Leben widmen wollten: Omnes litteras discant (Alle sollten lesen lernen)!
Deswegen gab es schon seit frühchristlichen Zeiten die Vorstellung einer Maria, die lesen konnte. Die Theologen des Mittelalters hielten sogar nur eine gebildete und lesefreudige Maria als Gottesmutter für möglich. Eine das Lesen lernende und des Lesens kundige Maria war ein Vorbild für Ordensleute und Laien im Nacheifern der christlichen Tugendhaftigkeit und der christlichen Erziehung. Anna, die durch den im Spätmittelalter zunehmenden „Annakult“ an Bedeutung gewonnen hatte, wurde als das Ideal in der Unterweisung christlichen Glaubens angesehen. Von Anna sollte gelernt werden, wie Töchter zur Ehre Gottes erzogen werden.
Anna und die lesende Gottesmutter wurden so zu Symbolfiguren, die Frauen zum Lesen aufforderten und ihnen dadurch Zugang zur Bildung, zum selbstständigen Denken und Handeln verschafften, den ihnen die mittelalterliche Gesellschaft verweigerte.

 

Die Unterweisung Mariens

Der Chor unserer Martinskirche ist nicht nur durch die Geschlossenheit seines umfangreichen Bildprogramms eine wahre Schatzkammer, sondern zusätzlich hält er wahre Raritäten für seine Besucher bereit. Verborgen im obersten Register der linken Fensterlaibung des Ostfensters im Chor finden wir eine solche Rarität: Die  Unterweisung Mariens – ein neues Bildthema des Spätmittelalters in einer einzigartigen Darstellungsweise! Als eines der am besten erhaltenen Wandbilder erstrahlt es nach der großen Reinigung des Chors im Jahr 2016 wieder in der Klarheit seiner Farben.

Wir blicken auf die rötliche Tempelarchitektur, die wir schon bei dem Wandbild „Joachim im Tempel“ kennengelernt haben. Perspektivisch angelegt, scheint der Tempel aus der Wand zu treten. Seine hexagonale Konstruktion weist auf die Allmacht Gottes hin, die an diesem Ort herrscht. Die Durchlässigkeit der Bildszene wird nach vorne durch die fehlenden Tempelpfeiler und den bogenförmigen, nach hinten hin rechteckigen Öffnungen erreicht.
Auf einer die Breite des Raums ausfüllenden Bank, zu der eine Stufe hinaufführt, sitzen links Maria und rechts Anna. Zwischen ihnen liegt eine geöffnete Bibel auf einem Lesepult. Über ihnen spannt sich wie ein Baldachin in fein nuancierten Grüntönen die Decke.

In der Übersetzung der mittelalterlichen Bildsprache wird uns bis hierher schon folgendes mitgeteilt: Die Verortung in den Tempel und das Sitzen auf einer, durch die davor gesetzte Stufe, thronartig erhöhten Bank zeigen die große Bedeutung Marias und Annas in der Frömmigkeit jener Tage. Körperlich voneinander getrennt teilen sie sich dennoch eine Bank (Im Mittelalter durften nur gleichgestellte Personen nebeneinander auf einer Bank Platz nehmen). So wie die aufgeschlagene Bibel, Gottes bevorzugtes Werkzeug, der  Mittelpunkt des Bildes ist, so ist sie das Bindeglied, die Mitte, zwischen Mutter und Tochter. Sie erzählt vom Lernen und Lehren des Lesens, vom Verstehen der Worte und Texte, von tief gehenden Gesprächen und der Verwirklichung aller ihrer Verheißungen. Und über allem liegt, im Grün der Decke aufgezeigt, die Liebe Gottes als zusätzliches Zeichen der sich erfüllenden Hoffnung!

Die Neustädter Unterweisungsszene hat beinahe ein Alleinstellungsmerkmal. Wir sehen hier nicht die übliche Darstellung einer Anna, die ihre Tochter im Lesen unterrichtet. Maria ist kein kleines Mädchen mehr, sondern auf ihrem Weg zur jungen Frau und zukünftigen Mutter des Erlösers. Deswegen steht nicht das Lesenlernen im Vordergrund, sondern die Beschäftigung mit dem Gelesenen. Beide Frauen haben sich hier intensiv mit einer Bibelstelle auseinandergesetzt und sind sichtlich bewegt durch die Worte, die sie gelesen haben. Doch jede reagiert auf eine andere Weise.

Maria hat ihren nimbierten Kopf mit seinen zurückgenommenen blonden Haaren zur Bibel geneigt, auf die ihre Augen sinnierend blicken. Sie trägt ein leuchtend blaues, am Oberkörper eng anliegendes Kleid, das ihre zarte, schlanke Figur hervorhebt. Doch ihre Körperhaltung ist die einer schwangeren Frau. Ins Hohlkreuz fallend zieht sie den Blick auf die Wölbung ihres Bauches, die durch ihre darauf liegende rechte Hand noch betont wird. Ihre linke, nach oben leicht geöffnete Hand hat die Bibel gerade losgelassen und es ist, als ob ihre Hand als Gefäß dient, um die Worte der Heiligen Schrift aufzufangen. Hier zeigt sich die Vorahnung des zukünftigen Heilgeschehens, das später am Anfang des Evangeliums nach Johannes so beschrieben wird: …  Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
Marias Vertrauen in Gott und in das zukünftige Heilsgeschehen ist unerschütterlich. Sie ist im Frieden mit sich selbst. Der ruhige Faltenwurf ihres weitschwingenden Rockes zeugt davon.

 

Ganz anders verhält es sich bei Anna. Sie ist aufgewühlt. Der rötliche Hintergrund, vor allem die roten Farbreste um ihren Kopf, der unruhige Faltenwurf ihres hellen Umhangs, den sie über ihrer grünen Tunika trägt, verstärken die Wirkung der inneren Erregung. Sie hält ihren Oberkörper, wie um Abstand zu gewinnen, leicht abgewandt. Das Gelesene und die sich so unverhofft abzeichnende Menschwerdung Jesus sind zu überwältigend. Die großen Augen ihres nimbierten Kopfs  sind unverwandt auf Maria gerichtet. Wenn sie auch in diesem Moment nicht sprechen kann, so reden doch ihre Hände: Die rechte, leicht geöffnet, deutet auf ihr Herz, während die linke auf ihrem Bauch liegt und auf ihre Tochter zeigt. Die Mutter fühlt, was in der Tochter vorgeht. Trotz räumlicher Trennung bleiben sie eine Familie. Selbst die Farben ihrer Kleidung weisen auf ihre Zusammengehörigkeit hin: Das Blau, die Farbe des Himmels, in Marias Kleid, das sich in der Innenseite von Annas Umhang, besonders aber dort, wo er aufspringt, in ihrem Schoss, zeigt und das Grün, die Farbe der Liebe und der Hoffnung, von Annas Tunika, das sich im Saumbereich von Marias Kleid wiederspiegelt.
Anna und Maria – verbunden im Glauben an die Liebe Gottes und im Hören auf Seine Worte!